In ihrer profunden und anregenden Untersuchung zu "Professionalität
und Alltag in der Erziehungsberatung" diskutierte Maria Kurz-Adam (1997)
den "Übergangsstatus der Beratungsstellen von einer modernen, auf
methodische Genauigkeit und Professionalität setzenden Welt zu einer
"postmodernen" Welt, die dem Alltag der Klientenbedürfnisse, den Krisen,
die oft aus Zufälligem bestehen, die kommen und gehen, kurz: die dem
Unordentlichen wieder mehr Raum gibt" (S. 234). Diese Orientierung am Alltag
kann leicht mit der Orientierung an fachlichen (Identität stiftenden)
Konzepten in Konflikt kommen. In diesem Rahmen konnten sich systemisch-familientherapeutische
Ansätze besonders bewähren. Die Besonderheiten dieser Ansätze
trugen entscheidend dazu bei, dass sich "‘Psychotherapie’ in der Beratungsarbeit
(...) von einem längerfristigen Unternehmen, das die gesamte Arbeit
der Beratungsstelle zeitlich blockiert, zu einer krisenorientierten, methodisch
vielfältigen Vorgehensweise gewandelt [hat], die an einer auch kurzfristigen
und am Situativen angesiedelten Hilfe zur Selbsthilfe interessiert ist"
(Kurz-Adam 1997, S. 139).
Auf diesem Hintergrund wird vielleicht besonders verständlich,
dass und wie sich systemische und familientherapeutische Ansätze im
Bereich der Erziehungs- und Familienberatung in den letzten Jahrzehnten
zu den am weitesten verbreiteten Verfahren entwickelt haben. Die Verwerfungen
und Herausforderungen nach Einführung des Psychotherapeutengesetzes
haben diesen Trend eher verstärkt. Richtig verstanden könnten
sich aus der Diskussion zum Verhältnis von Therapie und Beratung jedoch
gegenseitig befruchtende, anstelle konkurrierend-kompetetiver Positionen
entwickeln (vgl. Nestmann 2002). Die vorliegende Publikation verzichtet
jedoch weitgehend auf eine Vertiefung dieser Überlegungen. Dies ist
zwar schade, aber nachvollziehbar: die AutorInnen konzentrieren sich auf
die konkrete Umsetzung der Ideen im Arbeitsalltag. So bleibt es bei zwei
Bemerkungen am Rande. In Hundsalz‘ allgemeinem Überblick heißt
es lapidar: "Die Methodik der Erziehungs- und Familienberatung ist als
Ganzes ‚therapeutisch‘" (S.25). Auch von Schlippe erwähnt in seinem
Beitrag zu den "Grundlagen systemischer Beratung" nur in einer Fußnote,
dass die Grenzen fließend seien. Im übrigen lesen sich beide
Beiträge, die unter der Kapitelüberschrift "Kontext und Methode"
den Rahmen abstecken, flüssig und geben einen gut brauchbaren Überblick.
Dreiviertel des Buches beschäftigen sich titelkonform mit der Beschreibung von Praxisfeldern und Praxiserfahrungen. Es handelt sich hierbei in aller Regel um gut lesbare Beiträge, die den Praxisalltag als Referenzgröße und Erfahrungshintergrund deutlich erkennen lassen. Bis auf den Beitrag von Haim Omer zum elterlichen Umgang mit kindlicher Destruktion handelt es sich durchgängig um Erstpublikationen. Die Themenwahl der einzelnen Beiträge reflektiert das systemische Kernstück, Beobachtetes als Merkmal eines Beobachtungskontextes zu betrachten. So geht es hier nicht um "aggressive Kinder", sondern um "Familien, deren Kinder aggressives Verhalten zeigen" (Ratzke & Zander), nicht um "kindliche Destruktion", sondern um "elterlichen Umgang mit kindlicher Destruktion" (Omer), oder – um ein nicht so häufig thematisiertes Problem zu nennen – um "homosexuelle Jugendliche und ihre Familien" und nicht um kontextfreie Homosexualität (Symalla & Walther).
Die kontextualisierenden Überschriften versprechen nicht zu viel: Die einzelnen Beiträge diskutieren nachvollziehbar und mit Skizzen und Fallbeschreibungen versehen Probleme als Probleme-im-Kontext. Daraus ergibt sich ebenfalls ein Blick auf Lösungen als Lösungen-im-Kontext. Dies beinhaltet auch ein deutliches Interesse an Vernetzung, wie etwa in den konzeptionellen Überlegungen zum systemischen Arbeiten bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (P. Schmidt). Vernetzung kommt auch im Beitrag von Knorr & Grüter zum Tragen über die "Einbeziehung des Erziehers in den Therapieprozess des Kindes bei stationärer Unterbringung im Heim".
Einen Schwerpunkt bilden Beiträge zum Thema Trennung und Scheidung. Mackscheidt & Rasch diskutieren dabei explizit auch die Auswirkungen des neuen Kindschaftsrechts. Ihr Praxisbeispiel, das sich wie ein roter Faden durch den Beitrag zieht, reflektiert in seinen Höhen und Tiefen sehr valide, wie es gehen kann und welche Herausforderungen anstehen. Ähnlich zeigt auch der Beitrag von Zander, Herold und Roland zum begleiteten Umgang, wie die besonderen Zuspitzungen in Zwangskontexten sowohl Grundlage für unkonventionelle Lösungsideen sein können, wie aber auch von BeraterInnen einen langen Atem und die Bereitschaft verlangen, sowohl bescheiden, wie auch neugierig zu bleiben. Die AutorInnen konzedieren: "Bei Begleitetem Umgang erfährt die systemische Haltung Grenzen" (S.172). Dennoch wird gerade in diesem Beitrag deutlich, dass "systemisch" nicht bedeutet, grenzenlos zuständig oder gar erfolgreich zu sein, sondern im kontextuellen Reflektieren von sogenannten Gegebenheiten Möglichkeiten für verantwortliches Ausweiten von Handlungsoptionen anzuregen. Ein Beitrag von Jellouschek zum systemischen Arbeiten mit Stieffamilien schließt das Buch ab.
Insgesamt handelt es sich um einen gut lesbaren, anregenden und nachvollziehbar konzentrierten Einstieg in das Thema, der auch als informativer Kurzüberblick genutzt werden kann. KollegInnen aus der Praxis dürften wohl nicht so sehr von dem Neuigkeitswert des Buches beeindruckt sein, sondern mehr von der beharrlichen und auch Durststrecken nicht verheimlichenden Art, sich den Friktionen des Arbeitsalltags zu stellen. Das Buch kommt nicht als Hochglanzprospekt für Systemische Therapie und Beratung daher, sondern als seriöse Beschreibung krisentauglicher Konzepte. Gewünscht hätte ich mir etwas mehr Sinn für die eigene Geschichte. Immerhin gab es vor genau zehn Jahren bereits ein Vorgängerprojekt, in dem eine Standortbestimmung und Praxisdiskussion "Systemische Erziehungs- und Familienberatung" – umfangreicher als im vorliegenden Buch – unternommen wurde (Hahn & Müller 1993). Hier wäre ein Hinweis in der Einleitung ein gutes Signal gewesen. Dass es als expliziter Verweis in den Literaturangaben fehlt, ist ein Manko und erst recht unverständlich, da der Titel auf dem Buchrücken exakt auf den seinerzeitigen Titel verkürzt wurde. Es bleibt bei einzelnen Kapitelverweisen von AutorInnen, die bereits damals beteiligt waren. Abgesehen davon möchte ich das Buch von Zander und Knorr sehr empfehlen.
Literatur:
Hahn, Kurt & Franz-Werner Müller (1993) Systemische Erziehungs-
und Familienberatung. Wege zur Förderung autonomer Lebensgestaltung.
Mainz: Grünewald
Kurz-Adam, Maria (1997) Professionalität und Alltag in der Erziehungsberatung.
Entwicklungslinien und empirische Befunde. Opladen: Leske + Budrich
Nestmann, Frank (2002) Verhältnis von Beratung und Therapie. In:
Psychotherapie im Dialog 3(4), pp.402-409.
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)
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