Roland Schleiffer 2001: Der heimliche
Wunsch nach Nähe.
Bindungstheorie und Heimerziehung.
Münster: Votum, 303 S., € 24,60.
Seit nun mehr als 15 Jahren lässt sich in Roland Schleiffers Publikationen der anregende Versuch nachvollziehen, die allgemeinen Qualitäten systemtheoretischer Argumentation mit den inhaltlichen Besonderheiten symptomspezifischer Fragestellungen zu verknüpfen [1]. Schleiffer ist ein ausgewiesener Kenner der Luhmannschen Systemtheorie und einer der wenigen Autoren, denen es gelingt, die Luhmannsche Formallogik auf geradezu spannende Weise in Anregungen für das Fallverstehen zu übersetzen. Seine Überlegungen zur funktionalen Analyse, beispielsweise im Fall dissozialen Verhaltens, erweisen sich als besonders gelungene Verwirklichung des viel zitierten Bonmots, nichts sei so praktisch wie eine gute Theorie.
Im nun vorliegenden Buch erörtert Schleiffer die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Bindungsorganisation von Jugendlichen, die in einem Heim leben. Offensichtlich handelt es sich hierbei um das erste Projekt dieser Art, zumindest hierzulande. Die Ergebnisse dürften daher sowohl für die Bindungsforschung als auch für die Heimpädagogik von besonderer Bedeutung sein. Der eigentlich Forschungsbericht macht etwa ein Viertel des Buches aus, wobei der Zahlenteil sich auf die wesentlichen Ergebnisse beschränkt. Für PraktikerInnen dürfte die Illustration anhand dreier Fallbeispiele leichter zugänglich sein. Die ausführlichen Transkriptpassagen verdeutlichen hautnah, worum es geht, wenn Schleiffer die Bedeutung der Bindungstheorie gerade für den Heimbereich beschreibt.
Die Erörterung der Ergebnisse des Forschungsprojekts ist eingebettet in einen umfassenden Überblick über Geschichte und aktuellen Stand der Bindungstheorie. Deren Wurzeln in Bowlbys Ressentiments gegenüber Heimerziehung werden deutlich und so erweist sich die Frage als spannend, wie sich aus der Bindungstheorie für die Heimerziehung Lehren ziehen lassen.
Eine der Ausgangspunkte Schleiffers ist die systemtheoretisch fundierte
Position, dass Sozialisation nur als Selbstsozialisation möglich ist.
"Die
Entwicklung des psychischen Systems in seinem sozialen Kontext lässt
sich als Sozialisation bezeichnen. Da das psychische System autonom funktioniert,
kann es sich bei der Sozialisation immer nur um Selbstsozialisation handeln"
(177). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine konstruktive Form
des Umgangs mit einem "Technologiedefizit der Erziehung" zu finden:
"Erzieher sind (...) darauf angewiesen, dass sich ihre Zöglinge
erziehen lassen, dass mit anderen Worten ihr psychisches System anlässlich
der erzieherischen Kommunikation nicht Einspruch erhebt. Das Kind oder
der Jugendliche muss an Erziehung interessiert sein, zumindest sich Erziehung
gefallen lassen. Jugendliche müssen für Erziehung gewonnen werden
(Rotthaus 1999, 47). Bei einem nicht erziehungsschwierigen Kind muss also
in gewisser Weise eine Selbsttrivialisierung vorausgesetzt werden können.
Nur so lässt sich die Paradoxie des Erziehungsprozesses auflösen,
die darin besteht, dass man Kinder dazu bringen will, etwas letztlich von
selbst zu tun. Daraus folgt aber nicht, das Erzieher und ErzieherInnen
keine Verantwortung für die psychische Entwicklung des ihnen anvertrauten
Kindes hätten. So besteht die Verantwortung von Erziehern und Erzieherinnen
darin, ihre pädagogischen Beiträge so zu verfassen, dass das
psychische System des Kindes sie wahrscheinlich akzeptiert" (179).
Der inneren Strukturierung von Bindungserfahrungen kommt daher eine besondere Rolle zu, wenn es darum geht, sich auf "von außen" herangetragenen Erziehungsbemühungen einzulassen. In Bezug darauf diskutiert Schleiffer das Verhältnis von Erziehung und Bindung im Kontext des Zusammenlebens von Eltern und Kindern. Er geht dabei der Frage nach, "was die Familie instand setzt, diese offensichtlich schwierige Aufgabe immer wieder mehr oder weniger erfolgreich zu bewältigen. Wie schafft sie es, die autonom funktionierenden psychischen Systeme der Kinder dazu zu bringen, die für die erzieherische Kommunikation charakteristische Asymmetrie zu tolerieren?" (184). Seine Antwort: "Es ist die Bindungsbeziehung, die das Kind motiviert, sich an der erzieherischen Kommunikation zu beteiligen und sich erziehen zu lassen. Eine ausreichend sichere Bindungsbeziehung gestattet es den Kindern, sich soweit selbst zu trivialisieren, dass ihr psychisches System sich gegen die Beeinflussung durch die erzieherische Kommunikation nicht allzusehr wehrt. Sicher gebundene Kinder haben das Vertrauen, dass ihnen Erziehung letztlich gut bekommt" (184f.). Dass dies nicht immer gelingt und ein häufig sehr irritierbares Geschehen darstellt, ist durchgängiges Thema professioneller Hilfen in der Erziehungs- und Familienberatung: "Wird diese Chance allerdings vertan, (...), muss das Kind die Erfahrung machen, dass eine zu sorglose Akzeptanz dieser Asymmetrie seine Beziehungen, auf die es angewiesen ist, doch unsicherer werden lässt. Es wird seine Bindungsbeziehung so verändern müssen, dass die Vorhersagbarkeit dieser Beziehungen, die seine Welt doch zum großen Teil ausmachen, wieder ausreicht. Entwicklungsbedingt noch in hohem Maße abhängig von den Erwachsenen, aber ohne ausreichendes Vertrauen in deren Kompetenz, wird es sich daran machen, seine Bindungspersonen zu kontrollieren"(185).
Wie beispielsweise dissoziales Verhalten als Versuch gewertet kann, sich im Kontext unzureichender Bindungssicherheit einigermaßen über Wasser zu halten, schildert Schleiffer mit Hilfe seines Modells der funktionalen Analyse geradezu packend. "Als Probleme, die dissoziales Handeln als Problemlösung sinnvoll erscheinen lassen, kommen vor allem Probleme mit dem Selbstkonzept in Frage. Das Selbstkonzept eines Menschen gilt als schwach und unsicher, wenn er nicht ausreichend sicher sein kann, sich oft genug als Ursache von Wirkung bei anderen erleben zu können" (190). Sich mit genügend groß erlebter innerer Sicherheit als Ursache von Wirkung begreifen zu können (Selbstwirksamkeitserleben) wird zu einem zentralen Motiv: "Dissoziale Kinder und Jugendliche können es nur schlecht aushalten, wenn es nicht um sie geht. Deswegen handeln sie ihre Selbstreferenz überwiegend über den Modus des Handelns. Beim Handeln wird grundsätzlich für die dadurch erreichte Zustandsänderung das eigene System verantwortlich gemacht. Anders ist dies beim Erleben, bei dem die Ursache für die Zustandsänderung der Umwelt zugeschrieben wird. (...) Erleben ist daher also durchaus riskant und erfordert Vertrauen" (226). Beispiel Schule: "Dissoziale Kinder und Jugendliche lernen also, dass die für die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Selbstwertes notwendige soziale Resonanz in der Schule am ehesten in der Rolle eines erziehungsschwierigen Schülers zu erreichen ist" (227). "Sich seiner Handlungskompetenz zu vergewissern", kann so als die wesentliche Funktion abweichenden, dissozialen Verhaltens betrachtet werden (190).
In Schleiffers Beschreibungen und Überlegungen wird die Gratwanderung, die Erziehungshilfen zu bewältigen haben, unmissverständlich deutlich, jedoch auch die Chancen korrigierender Bindungserfahrungen (nicht nur) im Heim. Ich möchte dieses Buch nachdrücklich empfehlen. Der Inhalt ist ein Muss für alle, die professionell mit Erziehung zu tun haben, die Form eine Wohltat für diejenigen, die ein hohes theoretisches Niveau in Verbindung mit einer verständlichen Sprache zu schätzen wissen.
Fußnote:
[1] z.B.
1988a. Eine funktionale
Analyse dissozialen Verhaltens. In: Praxis d. Kinderpsychologie u. Kinderpsychiatrie
37: 242-247.
1988b. Sinngenerierung
als Bewältigungsstrategie. Ein systemtheoretischer Versuch zur Psychopathologie
komplexer Tic-Syndrome. In: Acta Paedopsychiatrica 51: 80-89.
1993. Anderssein.
Zur Familiendynamik dissozialer Adoptivkinder. In: Familiendynamik 18:
386-396.
1994a. Zur Unterscheidung
von Erziehung und Therapie bei dissozialen Kindern und Jugendlichen. In:
Heilpädagogische Forschung 20: 1-8.
1994b. Zur Selbstsozialisation
erziehungsschwieriger Kinder. In: Vierteljahresschrift f. Heilpädagogik
u. ihre Nachbargebiete 63: 467-479.
1995. Selbsttötung
als Versuch der Selbstrettung. Zur Funktion suizidaler Handlungen bei Jugendlichen.
In: System Familie 8: 243-254.
1997. Adoption – psychiatrisches
Risiko und/oder protektiver Faktor? . In: Praxis d. Kinderpsychologie u.
Kinderpsychiatrie 46: 645-659.
1998. Zur Funktion
selbstschädigenden Verhaltens. . In: System Familie 11: 129-137.
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)
Version: Mai 2002
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