Richard O’Connor ist nicht nur ein erfahrener Praktiker, sondern auch jemand, der weiß, wovon er spricht. Zum Thema "Depression" schöpft er sowohl aus seinen langjährigen Erfahrungen als Psychotherapeut, wie auch aus den eigenen Erfahrungen als jemand, der dieses Leiden bei sich selbst kennt [1]. Selten, dass mich beim Lesen eines Buches so deutlich der Gedanke begleitet: Diesem Autor glaube ich jedes Wort. Wie O’Connor "sein" Thema nicht nur umfassend, auf dem neuesten Stand der Forschung diskutiert, sondern auch selbstreflexiv mit all den Fragen verknüpft, die einen "wirklich" interessieren (weil sie das Thema "Authentizität" so wunderbar auf den Punkt bringen), und dabei konsequent auf die Praxistauglichkeit setzt, das ist schon ein starkes Stück. Ein Glücksfall. Es sind wohl nicht so viele AutorInnen, die ihre Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und Zweifeln so deutlich nachvollziehen lassen: "Alle TherapeutInnen schlagen sich mit ihrer eigenen Ungewissheit herum – sollten es jedenfalls tun -, wie diesem bestimmten Patienten in dieser spezifischen Situation zu helfen ist, in Anbetracht der Grenzen ihres eigenen professionellen Wissens, ihres eigenen unvollständigen Verstehens dieser Patientin, der Begrenzungen der therapeutischen Beziehung und in Anbetracht ihrer eigenen individuellen Voreingenommenheiten und Ängste" (S.XI ; [2]); oder: "Wie behandeln wir einen Patienten, der sich mit denselben Themen herumschlägt, mit denen wir selbst uns auch herumplagen?" (S.156). Diese – ebenso heiklen wie notwendigen - Fragen so zu stellen, dass die Antworten nicht in resignativen oder koketten Attitüden versumpfen, sondern so, dass Ressourcen deutlicher werden, ist eine Kunst. Diese Kunst kommt im vorliegenden Buch in vielfältiger Weise zum Ausdruck.
Das Buch nährt sich aus vielen Quellen: tiefenpsychologischen,
kognitiv-behavioralen und interpersonalen. In einem Wechselwirkungsmodell
diskutiert der Autor Depression als "das Leiden, das sich selbst verursacht".
Individuelle Vulnerabilität und aktuelle Stressoren gelten dabei als
die Grundfaktoren. Ihre Wechselwirkung tritt jenseits eines individuell
unterschiedlichen Schwellenwerts einen zirkulär vernetzten Prozess
los, der mit dem Kürzel "Depression" so vordergründig prägnant
wie genau besehen nichtssagend zusammengefasst ist.
"Aktive Behandlung" habe zum Ziel, den PatientInnen dazu zu verhelfen,
sich darüber bewusst zu werden, "wie sie ihre Depressionsfertigkeiten
nutzen und ihnen zu helfen, effektivere alternative Strategien zu lernen.
Indem wir das tun, möchten wir auf den Fertigkeiten aufbauen, über
die sie schon verfügen. Die Depressionsfertigkeiten haben den PatientInnen
bislang eine Menge an Kraft gegeben; ein großer Teil unseres Jobs
besteht darin, diese Kraft einfach umzuleiten" (S.64). Und noch eine lösungsorientierte
Einstellung (ohne dass O’Connor sich selbst als lösungsorientierten
Therapeuten beschreiben würde): aus der zirkulären Natur des
Leidens ergebe sich, "dass wir opportunistisch intervenieren können:
da, wo die Ressourcen am grössten sind und der Widerstand am geringsten
ist" (S. 65).
Das Buch ist für mich ein herausragendes Beispiel für einen system-orientierten Ansatz. Es beschreibt Wechselwirkungen und Rahmenbedingungen, diskutiert am Beispiel "Depression" die Konstruktion bio-psycho-sozialer Modelle sowohl umfassend wie in ihrem Nutzen für die Alltagspraxis geradezu selbstevident. Auch wenn selbstorganisationstheoretische Überlegungen nicht explizit zur Sprache kommen: O’Connors Beschreibungen könnten zu einem großen Teil nahtlos entsprechend übersetzt werden. Gleiches gilt für konstruktionistische Perspektiven: sie werden nicht explizit, bzw. nur einmal kurz benannt, lassen sich jedoch (sozusagen) "an jeder Ecke" aufspüren.
Dennoch kann dieses Buch nicht ohne weiteres als "systemische Literatur" vereinnahmt werden. Zu deutlich ist es anders akzentuiert als systemische Ansätze im engeren Sinne (vgl. Ludewig 1999 [3]). O'Connor bekennt sich zu seiner Rolle als Experte und benutzt des öfteren ontologisierende Beschreibungen. Er demonstriert jedoch auf eine für mich sehr überzeugende Weise, wie es möglich sein kann, die Position eines Experten einzunehmen und dabei die eigene Beziehung zum Thema, die eigene Motivation transparent zu machen. Wissen verkommt hier nie zu Herrschaftswissen, sondern wird in seiner dienenden Funktion kenntlich, als verantwortungsvolles commitment, wenn es etwa heißt: "Wir können den PatientInnen Hoffnung vermitteln, dass sie, indem sie gut für sich sorgen, zu denen gehören können, die sich nachhaltig erholen; aber wenn wir nicht über die eingeschränkte Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, infantilisieren wir sie und enthalten ihnen Wissen vor, das sie brauchen um gute Lebensentscheidungen treffen zu können" (S.236). Auch wenn O’Connor sein "Wissen" um die Natur des Leidens "Depression" beschreibt, wirkt dies für mich nicht so sehr als "Störungswissen", sondern als Fundus, aus dem jemand schöpft, sein Angebot zur Hilfe jeweils neu zu aktualisieren. So erscheint mir O’Connors Darstellung als eine einleuchtende und schöne Illustration dessen, was Ludewig (2000 [4]) in seiner Diskussion des Stellenwerts von Störungswissen so griffig auf den Punkt bringt: "Wissen "hat" man nicht, sondern man wendet es an. Die Frage ist nicht "Was ist?", sondern vielmehr "Wie wird was ausgewählt und verwendet?" Und dies führt geradewegs in den Bereich der persönlichen Verantwortlichkeit derjenigen, die Wissen anwenden" (S.45). Kennzeichnend für O’Connors Herangehensweise ist auch sein Gefühl für Takt und Respekt: Praktisch heißt dies z.B.: "Es ist ehrlich und taktvoll, zu sagen ‚Ich denke, Sie können bald etwas Erleichterung erwarten‘. Es ist nicht ehrlich zu sagen ‚Sie werden sich bald besser fühlen‘. Es ist nicht taktvoll zu sagen ‚Jeder ist anders, die Zeit wird’s zeigen‘. Es ist nicht hilfreich zu sagen: ‚Machen Sie sich keine Sorgen, wir passen gut auf Sie auf, alles wird gut‘. Wir Depressiven kennen den Sound falscher Versprechungen..." (S.100).
Wem ein nachhaltiges Verbünden systemisch-konstruktionistischer Ansätze mit thematisch-inhaltlicher Tiefenschärfe ein Anliegen ist (etwa im Sinne störungsspezifischen Ressourcenwissens), ist mit diesem Buch auf herausragende Weise bedient. Ich wünsche ihm viele LeserInnen.
[1] Weitere Informationen zum Autor und seiner Arbeit: http://www.undoingdepression.com/theAuthor.html
[2] alle Übers.: W.L.
[3] Ludewig, K. 1999. Therapieziele in der Systemischen Therapie.
In: Ambühl, H. & Strauß, B. [Hrsg.] Therapieziele. Göttingen:
Hogrefe, pp. 251-275
[4] Ludewig, K. 2000. Brauchen wir Störungswissen, um lösungsorientiert
zu arbeiten? Systeme 14(1), pp.31-46.
Wolfgang Loth (2001), kopiloth@t-online.de