[Kurzfassung erscheint in Systhema 20(3), 2006]

Matthias Hermer, Hans Gerhard Klinzing (Hg.) 2004: Nonverbale Prozesse in der Psychotherapie.
Tübingen: dgvt-Verlag, 416 S.

Matthias Hermer erwähnt in seinem einführenden Beitrag "Stille Begegnungen" ein Leitmotiv der Beiträge dieses Readers. Ihr Sinn, heißt es da, ergebe sich daraus, "sich seiner nonverbalen Kommunikation bewusst zu werden und sie, so weit es möglich ist, in die Herstellung eines hilfreichen Arbeitsbündnisses einzubeziehen" (S.43). In dieser allgemeinen Form dürfte das passen, etwas kniffeliger wird es schon, wenn es um die praktische Umsetzung geht. Da heißt es auf der gleichen Seite z.B.: "Therapeutische Kongruenz lässt sich […] als Widerspruchsfreiheit zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation definieren". Die Absicht ist löblich, es könnte jedoch sein, dass sich hier ungewollt ein Hinweis auf eine offene Flanke des Buches versteckt. Einerseits wird die Rolle von Kontexten für das Entziffern von Bedeutungswahrscheinlichkeiten nonverbalen Verhaltens erkennbar. Andererseits sind widerspruchsfreie Kontexte wohl eher ein Widerspruch in sich selbst. Oder, wie de Shazer (1992) argumentiert: "Kontext ist bloß mehr Text; die Bedeutungen des "Kontextes" sind genauso unentscheidbar und können deshalb ebenso mehrdeutig sein. Der Verweis auf den Kontext, um problematische Interpretationen zu lösen, verschiebt das Problem einfach an einen anderen Ort: Er löst nichts" (S.72).

Das Kriterium der Widerspruchsfreiheit macht daher wohl nur dann Sinn, wenn Kommunikation in mehr oder weniger trivial isolierbaren Einheiten gedacht wird. Die "alten" Sender-Empfänger-Modelle stehen immer noch Pate, und dies eindeutig nicht im Sinn der von de Shazer auf den Punkt gebrachten Mahnung, die Botschaft bestimme immer der Empfänger. Nun gut, der Forderung Hermers kann dennoch ohne weiteres zugestimmt werden, dass PsychotherapeutInnen "eine ‚automatisierte’ Verarbeitung nonverbaler Signale nicht unhinterfragt zur Wirkung kommen lassen", und dass sie in der Lage zu sein sollten, "ihre Urteile unter Berücksichtigung der Komplexität körpersprachlichen Ausdrucks reflektiert zu verwenden" (39). Wie mir scheint, dient der vorliegende Reader diesem Anliegen recht gut.

Das Buch nimmt sich ein offensichtliches Missverhältnis vor, das zwischen einer eher nachrangigen Bedeutung nonverbaler Prozesse in der Therapieforschung und dem Umstand besteht, dass Ergebnisse, die sich nicht verkörpern (lassen), bestenfalls die Ideenlandschaft bereichern. Erstaunlich, verweist doch ein Begriff wie Behandlung geradezu bildhaft auf das Thema Berührung, Berührtwerden hin, wie der Körpertherapeut Thomas Busch bemerkt (S.237). Das ist natürlich ein weites Feld und die bevorzugte Verlagerung des Berührens in den Bereich des Metaphorischen verweist für Therapie und Beratung wohl nicht zuletzt auf die Fallstricke ethischer (Selbst-)Reflexion. Es macht einen Unterschied, ob Berühren im Kontext trivialer wenn-dann-Konzepte betrachtet wird, oder im Kontext des Respektierens von Autonomie als Ausgangspunkt.

Das Buch gliedert sich nach Hermers Einführung in vier Teile. Teil 1 diskutiert Grundlagen. Hier gibt es u.a. einen informativen und lesbaren Text von Maria von Salisch zu Ausdruck und Regulierung von Emotionen bei Kindern und Jugendlichen. In Teil 2, dem für mich zentralen des Buches, kommen nonverbale Prozesse in der Therapie zur Sprache. Hier ragen für mich die Beiträge von Ulfried Geuter und von Thomas Busch heraus. Geuter skizziert Entwicklungslinien und Modelle körpertherapeutischer Ansätze. Schon spannend, wie sich das Thema von Beginn an zu konflikthafter Ausdifferenzierung eignete (die Entwicklung der Beziehung von Freud und Ferenczi als "berührendes" und Weichen stellendes Beispiel; vgl. dazu den Briefwechsel von Freud und Ferenczi in der letzten Phase ihrer Beziehung (Falzeder & Brabant 2005)).

Thomas Busch diskutiert unter der Überschrift "Berühren oder nicht berühren...?" einige "Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Kontraindaktionen des therapeutischen Umgangs mit Formen der Berührung in der Psychotherapie und Körperpsychotherapie". Dieser Beitrag scheint mir ein sehr gutes Beispiel zu sein für einen sowohl verständlichen, wie seriös-informativen, die Schwierigkeiten des Themas nicht verleugnenden Text. Im folgenden Zitat kommen für mich wesentliche Kernpunkte der in diesem Buch diskutierten Thematik zusammen: "Das Herausfinden der "Stimmigkeit" ist ein dialogischer Prozess", heißt es da," in welchem wir uns als Therapeuten beständig im Sinne einer zu bearbeitenden Dialektik von "Unstimmigkeit" und "Stimmigkeit" einlassen sollten, um von dieser Dialektik "infiziert" werden zu können (ohne dabei zu erkranken)" (S.227). Die Kernpunkte, wie ich sie verstehe: "Stimmigkeit" wird nicht einseitig definiert sondern dialogisch miteinander entwickelt. Und: Ein Gespür für Grenzen ist unabdingbar, dies als Voraussetzung wie auch als beständiger Indikator für Respekt, für Respektieren als der im therapeutischen Bereich einzig legitimen Form "bis an die Grenzen zu gehen". Unter dieser Voraussetzung ist die Chance groß genug, dass Berühren nicht zum Verletzen wird.

Weitere Beiträge in Teil 2 befassen sich mit Lächeln in der Therapie, mit Schweigen, und mit dem Thema "Selbstverletzung als Form spätmoderner Körperinszenierung". Auch diese Beiträge lesbar und anregend. Ein Kapitel für sich bildet der Beitrag von Hilarion Petzold über den "informierten Leib im Polylog". Ich bin mir nicht sicher, ob Petzold sich darüber Gedanken gemacht hat, inwieweit sein phänomenales Wissen in dieser Form LeserInnen eher einlädt oder abweist. Wenn der "informierte Leib im Polylog" als ermutigende oder sogar befreiende Erfahrung gedacht sein soll, so kommt das in der vorliegenden Form für mich nicht zum Ausdruck. Ich finde das schade, gerade weil ich trotz der verbalen Hürdenstruktur dieses Beitrags eine Anmutung nicht loswerde, dass darin wichtige Impulse versteckt sein könnten.

Teil III des Readers thematisiert "Störungsspezifische nonverbale Kommunikation" am Beispiel von Angststörungen, Borderline, PTSD und Anorexie. Teil IV stellt drei Beiträge zum "Training nonverbaler Kompetenzen" zur Verfügung. Diese Kapitel stellen im Wesentlichen Forschungsberichte dar. Sie diskutieren ihren Gegenstand sicher auf dem neuesten Stand der zugänglichen Information, entwickeln jedoch eher nicht den spirit, der sich in der Beschäftigung mit nonverbalen Prozessen sonst doch leichter einstellt. Mir scheint auch, dass gerade diese Beiträge verdeutlichen, wie sehr sich der Zeitgeist verändert hat gegenüber der Aufbruchstimmung der nonverbalen Forschung etwa in den 1970er Jahren. Wer sich etwa Albert Scheflens "Körpersprache und soziale Ordnung" (1976, Orig. 1972) noch einmal vornimmt, mag den Unterschied deutlich spüren. Es schien damals beinahe selbstverständlich, den Umgang mit nonverbaler Kommunikation auch (gesellschafts-)politisch zu reflektieren. Zwar funkeln auch im hier vorliegenden Reader immer mal wieder Momente auf, in denen die makrosoziale Einbettung des Themas nonverbale Kommunikation (oder gar des Themas Psychotherapie) erkennbar wird. Diese Momente sind jedoch geradezu versteckt. So, wenn Hermer eine Untersuchung zitiert, in der es um Möglichkeiten ging, Lügen und Wahrheit sagen allein über nonverbale Hinweise zu unterscheiden. "Lediglich eine Gruppe", heißt es da, "nämlich Mitarbeiter des US-Geheimdienstes, konnte Lügner überzufällig von die Wahrheit sagenden Personen differenzieren und unterschied sich damit signifikant von allen anderen untersuchten Gruppen" (S.45). Das mag nun ein Trost sein etwa für solche, die von diesen Experten trennscharf betreut wurden zu Gunsten eines andauernden Friedens in letzter Zeit. Gut, dass Paul Ekman dann auch zitiert wird, es sei für TherapeutInnen nicht erstrebenswert, "sich im nonverbalen Aufdecken von Lügen ihrer PatientInnen zu versuchen. Dies entspreche eher der Rolle von Ermittlungsbeamten" (S.46). Ein schöner Hinweis in einer zunehmend verbürokratisierten Psychotherapielandschaft. [Allerdings haben Ekman und sein Kollege Friesen schon 1969 verraten, dass die üblicherweise weniger kontrollierten Füße sich eher als das stärker kontrollierte Gesicht als Leck betätigen, durch das Information zutreffender fließe hinsichtlich zurückgehaltener Emotionen und Einstellungen.]

Insgesamt halte ich das Buch für gut brauchbar, und im Sinne des Anliegens der Herausgeber für gelungen. Ein Blick auf neuere Literatur und Trends wird möglich, wie auch darauf, welche Autoren aus der Aufbruchzeit heute noch eine Rolle spielen (wie z.B. Ekman & Friesen, Albert Mehrabian, oder Michael Argyle) und welche nicht (wie etwa Ray Birdwhistell oder Albert Scheflen). Das Anliegen, die Aufmerksamkeit (wieder) über die dominierende sprachtheoretische Reflexion hinaus zu lenken, sozusagen auf die "Verkörperungen" narrativer Prozesse, erscheint mir wichtig und hilfreich (auch, dass dies ohne Rekurs auf die gängige Aufstellungsarbeit möglich ist und geschieht). Ich hätte mich allerdings auch darüber gefreut, wenn die Herausgeber etwas mehr auf die quasi-nonverbale Kommunikation zwischen AutorInnen und LeserInnen geachtet hätten. Vielleicht hätten die Herausgeber dann ja auch hinsichtlich der zu Anfang erwähnten Widerspruchsfreiheit punkten können: Inhalt und Form gingen dann Hand in Hand, sozusagen.

Literatur:
Argyle, M. (1975). Bodily Communication. London: Methuen.
Birdwhistell, R. (1970). Kinesics and Context. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
de Shazer, S. (1992). Das Spiel mit Unterschieden. Wie therapeutische Lösungen lösen. Heidelberg: Carl Auer [Orig.1991].
Ekman, P. & W.V. Friesen (1969). Nonverbal leakage and clues to deception. Psychiatry 32: 88-106.
Falzeder, E. & E. Brabant (2005). Sigmund Freud – Sandor Ferenczi – Briefwechsel. Band III/2, 1925 bis 1933. Wien: Böhlau.
Mehrabian, A. (1972). Nonverbal Communication. Chicago: Aldine.
Scheflen, A.E. (1976). Körpersprache und soziale Ordnung. Kommunikation als Verhaltenskontrolle. Stuttgart: Klett [Orig. 1972].

Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)

[Mai 2006]