Publikation in: systeme 19(1), 2005, pp. 147-148

Jürgen Kriz (2004): Lebenswelten im Umbruch – Zwischen Chaos und Ordnung.
Wien: Picus, 75 S.

In der Reihe "Wiener Vorlesungen im Rathaus" ist nun Jürgen Kriz‘ Rede vom Juni 2003 erschienen. Das Büchlein umfasst neben der Rede zwei kurze und verständige Einleitungen der Professoren Hubert Christian Ehalt und Rudolf Richter. Jürgen Kriz gehört zu den ganz wenigen unserer Profession, die es auf sich nehmen, gesellschaftspolitische Themen explizit mit zu berücksichtigen und Wechselwirkungen zwischen kognitiven, kommunikativen und gesellschaftlichen Prozessen zu untersuchen. Dabei ist das Verwobensein von Mikro- und Makroprozessen ein Standardthema selbstorganisationstheoretischer Perspektiven! Nicht jedem gelingt es allerdings, dies so verständlich und motivierend zu beschreiben wie Jürgen Kriz. Nicht jeder argumentiert allerdings auch so engagiert auf das Gemeinwesen bezogen, also politisch, wie er. Kriz verknüpft dabei Empathie mit der erlebenden Person und Kritik an einem entmündigenden und – wenn man so will – seelenlosen Wissenschaftsverständnis mit Ermutigung zum angemessenen Umgang mit Komplexität. Ein zentraler Gedanke in seiner Argumentation bezieht sich auf die grundlegende Angst vor dem Erleben nicht berechenbarer Einflüsse und einem daraus resultierenden Bestreben, unter allen Umständen "für Ordnung zu sorgen". Solange diese Ordnung als heuristisch begriffen wird, als wegbereitende Hypothese, hat das seine lebenserleichternden Qualitäten. Nicht umsonst verweisen zwei der drei Säulen salutogenetischer Überlegungen zum Überleben unter Stressbedingungen auf Überschaubarkeit und Handhabbarkeit. Genau dies ist jedoch unter den Bedingungen einer zunehmend vernetzten Welt nicht mehr so ohne weiteres zu haben. Kriz weist darauf hin, "dass die für die Chaosproblematik so entscheidende Vernetzung der Teilprozesse faktische Realität geworden ist. Damit wird das Systemverhalten eben auch in der Realität grundsätzlich anders beschreibbar als das ‚klassische‘ Verhalten relativ isolierter – oder als hinreichend isoliert zu betrachtender – Einzelteile eines Gesamtsystems" (S.64). Dies wiederum ist von Bedeutung für die Wahrscheinlichkeit eines ausreichend sicheren Selbstwirksamkeitserlebens. Querverbindungen zur Traumaforschung, zur Bindungsforschung, zur Radikalisierung von Umgangsformen ergeben sich wie von selbst. Wer sich in einem als chaotisch erlebten Leben keine ausreichend faire Chance mehr ausrechnet, selbst etwas für sich Notwendiges bewirken zu können, wird sich wohl oder übel für Notlösungen entscheiden: nach innen in Form von Rückzug oder passender Dekompensierung, nach außen in Form effektiver Provokation von Reaktionen. Umso wichtiger wird der Verweis auf die dritte Säule salutogenetischer Perspektiven: das Sinnerleben. Hier trägt Jürgen Kriz m.E. Entscheidendes dazu bei, zu einem Umgang mit Komplexität zu ermutigen, der der Vielfalt gerecht wird. Bemerkenswert seine Mahnung, dass "heute selbst in der Psychotherapie weit mehr Programme zur Förderung von Selbstkontrolle (...) als von Selbstvertrauen" die Runde machen. Er argumentiert gegen den absurden Versuch, "jedes Detail eines komplexen nicht-technischen Ablaufs bürokratisch planen zu wollen, statt eher mit flexiblen und allgemeinen Leitlinien die Selbstorganisationskompetenz zu unterstützen" (S.62). Praktisch schlägt er vor, "die einseitige Überbetonung des Planens gegenüber der Imagination kritisch zu hinterfragen" (S.71). Dies allerdings setze ein deutlicheres Bekenntnis zu Werten voraus.

Auch wenn im Rahmen einer Rede vor einer interessierten Öffentlichkeit manches ein wenig geglättet und im Erzählton daherkommt, und manche Themen eher assoziativ verknüpft erscheinen, so entsteht doch der Eindruck, dass dieses vermeintlich kleine Bändchen es in sich hat. Geradezu tröstlich fand ich es, dass es offensichtlich möglich ist, über komplexe und gesellschaftlich unter den Nägeln brennende Themen verständlich zu reden ohne auf Plattheiten zurückzugreifen. Es fördert die Hoffnung auf Alternativen zu einem manchmal irrsinnig erscheinenden Pseudobewältigungsbetrieb. "Die Stimme der Vernunft ist leise", wird Freud auf dem Gedenkstein vor der Votivkirche zitiert, aber immerhin: sie ist zu hören. Und Jürgen Kriz trägt überzeugend dazu bei.

Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)