Jürgen Kriz 1997. Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 125 S.
Gelegentlich drängt sich mir der Eindruck auf, "Wissenschaft" sei zur theologischen Instanz unserer Variante von Zivilisation geworden, die Antwort auf "die letzten Dinge" verspricht, zeittypisch verkürzt auf die vorletzten, und als solche geeignet, Entscheidungen zu legitimieren, die weit über ihren Rahmen hinausweisen, Tod als "Hirntod" definiert, beispielsweise. So verkürzt wird Wissenschaft disqualifiziert zu einer Form der Digitalisierung des Lebendigen. Sie wird jedoch erst dann zu einer oft auch existentiell hilfreichen Stütze, wenn sie auch ihre Fähigkeit und Bereitschaft einsetzt, sich selbst zu reflektieren, den eigenen Ausgangspunkt kenntlich zu machen und die Kontexte ernstzunehmen, in denen sie sich bewegt und die sie mitbewegt. Dann wird aus der Absicht von Wissenschaft, Antworten zu entwickeln, die Fähigkeit, mit Antworten zu "dienen", "Verantwortung" zu übernehmen. Wobei wir bei dem hier vorgestellten Buch wären und bei seinem Autor.
Jürgen Kriz hat sich sowohl einen Namen gemacht als Wissenschaftler, der in der Lage ist, äußerst komplexe Zusammenhänge verständlich zu vermitteln, in den letzten Jahren besonders zum Thema Selbstorganisation und komplexe nichtlineare Dynamik. Zum anderen hat sich Kriz stets als ein humanistisch motivierter Wissenschaftler und Autor zu erkennen gegeben. Auch wenn dies im Sinne des berühmten Satzes von Max Frisch "nicht die Zeit für Ich-Geschichten" ist, erlebt wird sie (wie alle Zeit) von Individuen, von jeder/m einzelnen, angewiesen auf Resonanz, Achtung und Wertschätzung durch andere. Kriz' Arbeiten zu einer "personzentrierten Systemtheorie" tragen dem Rechnung und sind ein starker Einwand gegen technizistische Interpretationen und Umsetzungen systemischer Perspektiven. Von all dem ist in diesem Buch die Rede, einer Einladung zu einer weiten Wanderung, wie es im Vorwort heißt, und so gibt sich der Autor zu erkennen: bewegt, ansprechend.
Es handelt sich um die überarbeiteten Mitschnitte einer VHS-Vortragsreihe zum Thema "Ist die Welt (noch) in Ordnung?". Alltagssprachliche Assoziationen verbinden sich mit teilweise episodenhaften Darstellungen von Wissenschaftsgeschichte(n). Wie die Angst vor dem Uneindeutigen, nicht einseitig Planbaren den einzelnen Menschen dazu bringt, sich ein Bild zu machen, wie dies im sozialen Leben (s)eine Rolle(n) spielt, und wie dies als eine Gratwanderung sowohl Sicherheit verspricht wie Einengung bringt, ist das allgemeine Thema dieses Buches. Das spezielle Thema ist, die Rolle der Wissenschaft als Herrschaftsinstrument zu bedenken, als ein Mittel, die Vielfalt des Lebendigen zu diskreditieren, Hoffnung auf achtsame Formen autonomer Entwicklungen zu verringern ("Noch heute finden wir mehr Programme zur Selbstkontrolle als zur Förderung von Selbstvertrauen", S. 86). Kriz zieht eine Parallele zwischen den Mechanismen der Angstabwehr bei Zwangspatienten und den "Tugenden" einer "sauberen" wissenschaftlichen Methodik. Demgegenüber arbeitet Kriz für ein Verständnis von Wissenschaft, die sich ihrer Grenzen bewußt ist, und dies nicht als Manko sondern als Ressource begreift. Dahinter wirkt, so scheint mir, eine Vision von Möglichkeiten, Menschen dazu zu ermutigen, sich nicht auf "Angst" als Kontrollparameter für das Entwickeln von "Ordnung" zu stützen, sondern der Vielfalt des Lebendigen respektvoll und aufmerksam zu begegnen. "Wir haben je nach unserem Standort in der Welt nur perspektivische Bilder. Wenn wir diese Grenzen unserer Erkenntnis demütig anerkennen, können wir nichts Besseres tun, als mit den Menschen, die andere Standpunkte und Perspektiven haben, in einen Dialog (...) treten, damit aus der Vielfalt der Perspektiven etwas mehr von der dahinterstehenden Komplexität deutlich wird" (S.115). Dieses Buch hilft auf dem Weg zum "unerschrockenen Respektieren".
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)