Haim Omer & Arist von Schlippe
(2002): Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern
mit Verhaltensproblemen. "Elterliche Präsenz" als systemisches Konzept.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 214 S.
Haim Omer (Universität Tel Aviv) und Arist von Schlippe (Universität Osnabrück) legen ein Buch zu einem Thema vor, das "nach Erfurt" für eine Zeit mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen dürfte. Das Schlüsselwort im Hinblick auf das Erschließen neuer Möglichkeiten ist in diesem Buch "Elterliche Präsenz". Kennzeichnend für die Autoren ist dabei ihre behutsame und unprätentiöse Herangehensweise. Immer wieder betonen sie, "elterliche Präsenz" sei kein normatives Konzept. Sie sei "kein Wundermittel zur Behebung aller Probleme der Kindererziehung" heißt es, "und wie so viele Instrumente kann auch dieses Konzept mißbraucht werden. (...) In den Familien, mit denen wir es zu tun haben, sind die Eltern so gelähmt, daß sie die Kraft verloren haben, sich selbst oder das Kind zu schützen. Für diese, und nur für diese Fälle bieten wir das Konzept der elterlichen Präsenz an" (S. 34).
Was ist mit "elterlicher Präsenz" gemeint? Drei Aspekte kommen zur Sprache: "die Fähigkeit, wirksame Handlungen auszuführen", "ein Bewußtsein für ein eigenes und moralisches und persönliches Selbstvertrauen", sowie "das Gefühl, daß die eigenen Anstrengungen von anderen eher unterstützt als vereitelt werden. [...] Mit anderen Worten: wenn die Eltern fähig sind zu sagen: "Ich kann handeln!", "Dies ist richtig!" und "Ich bin nicht allein!", dann basiert ihr Handeln auf elterlicher Präsenz" (S. 35). In vielen Fallbeispielen illustrieren Omer und von Schlippe ihr Konzept und stellen eine Vielzahl praktischer Varianten vor (wie Festhalten, Sit-In als Prototyp gewaltfreien Widerstands, gewaltfreie Einschränkung, Verträge, u.a.). Die Autoren diskutieren theoretische Grundlagen (Theorie familiärer Zwangsprozesse, Grundlagen symmetrischer und komplementärer Eskalation) und verweisen auf Konzepte mit ähnlicher Zielrichtung (wie Triple-P oder den multisystemischen Ansatz von S. Henggeler). Leitmotivische Sätze, die die elterliche Haltung stärken, sind z.B. "Ich kann dein Verhalten nicht akzeptieren und werde alles tun, es zu stoppen, außer dich zu schlagen oder zu attackieren", "Ich gebe dir nicht nach und gebe dich nicht auf!" oder "Ich werde nicht zulassen, ausgeblendet, abgeschüttelt zu werden oder unberücksichtigt zu bleiben!"" (S.57).
Trotz der teilweise dramatischen Ausgangslage folgen die Autoren konsequent einer ressourcenorientierten Logik. Dennoch: "Die Ängste der Eltern sind niemals trivial" (S.103). Sie werden aufgegriffen als valide Ausgangspunkte für ein Lernfeld, in dem es darum gehe, die notwendigen "Kämpfe so zu gestalten, daß dort zwar kraftvolle Auseinandersetzungen und Konfrontationen stattfinden können, dabei jedoch Leib und Seele der Beteiligten unbeschädigt bleiben" (S. 67). Ein wichtiger Bestandteil der Hilfe besteht darin, die Eltern (wieder) mit der Möglichkeit vertraut zu machen, sich Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld zu holen. Die Autoren erweitern somit die "elterliche Präsenz" um "Netze der Präsenz".
Insbesondere in aufgewühlten Zeiten wie denen "nach Erfurt" könnte das Konzept durchaus missverstanden werden als Anleitung zu übergriffigem Elternverhalten, als Begründungszusammenhang für die Maxime "Das Imperium schlägt zurück". Dem widersprechen die Autoren auf ihre Art energisch: "Elterliche Präsenz besteht gerade nicht in der Ausübung einer unhinterfragten und unhinterfragbaren Autorität" (S. 23). Sie gehen auch davon aus, dass das Modell nicht dazu geeignet sei, elterliches Überengagement zu ermutigen. Die Ausgangslage sei dazu einfach nicht geeignet: "Wir sollten nicht vergessen, daß wir über Familien sprechen, die dadurch charakterisiert sind, daß die Eltern praktisch abwesend sind" (S.209). Außerdem habe sich gezeigt, dass in keinem Fall die Eltern länger als notwendig dabei blieben: "Anders als bei willkürlicher Macht erfordert elterliche Präsenz zu viel Einsatz, als daß sie die Eltern abhängig machen könnte" (S.209).
Es spricht für die Autoren, dass sie eigene Kurzschlüsse und Grenzen des Vorgehens nicht verschweigen, sondern im Gegenteil aktiv für das Vermeiden eines Bildes "magischer und unausweichlich erfolgreicher Beratungsprozesse" eintreten: "Eine solche Voreingenommenheit ließe Therapeuten wie Eltern unvorbereitet für den Fall der Unlösbarkeit oder des Fehlschlags" (S.27f.).
Eher kurz behandeln die Autoren die Frage der Indikation/ Kontraindikation. Wichtig sei zu klären, ob das symptomatische Verhalten durch andere Umstände genährt werde als durch mangelnde elterliche Präsenz (Mißbrauch, etc.). Ebenfalls sei zu klären, ob die Symptomatik verstehbar sein kann im Kontext überzogener Erwartungen (Ehrgeiz) der Eltern. Und schließlich komme es auch auf die Motivation der Eltern zu ausdauerndem und zeitintensivem Einsatz an.
Insgesamt bietet dieses Buch eine Fülle an Anregungen für das Reflektieren von Hilfen in verfahrenen familiären Situationen. Es bleibt zu hoffen, dass die Vorsicht und die Behutsamkeit, die die Autoren selbst an den Tag legen, bei der zu erwartenden breiten Rezeption nicht außen vor geraten. Wer nur auf den Nutzen zielt, wird dem Ansatz nicht gerecht. Entscheidend ist das konsequente Einfordern von Respekt. Nur dann kann das vorliegende Modell "Unterschiede machen, die Unterschiede machen". Und auch hier gibt es kein kontextfreies Wirken: eines der sehr beeindruckenden und "eigentlich" erfolgreich verlaufenden Beispiele endet schließlich damit, dass das wieder erstarkte Elternverhalten im Rahmen der härteren Realität ökonomischer Verhältnisse nicht Bestand haben konnte. Dies spricht nicht gegen den Ansatz, sondern für die Seriosität und Transparenz der Autoren, die diesen Umstand nicht verschweigen. Nicht nur deswegen ist dem Buch eine breite LeserInnenschaft zu wünschen.
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de)
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