Matthias Hermer (Hrsg.) 2000:
Psychotherapeutische Perspektiven am Beginn
des 21. Jahrhunderts. Tübingen: dgvt-Verlag, 392 S., DM 48,--
Nachdem das PsychThG die Claims abgesteckt, die Pfründe (zunächst) gesichert und die Freiheitsgrade einer professionellen Weiterentwicklung verringert hat, scheint eine perspektivisch angelegte Bestandsaufnahme wohl nicht selbstverständlich. Und wenn diese Bestandsaufnahme auch noch aus dem Haus einer der Verfahrensgewinner kommt, scheint Skepsis angebracht. Insgesamt findet diese Skepsis mit diesem Buch jedoch kaum Nahrung. Dem Herausgeber gelingt es bereits in seiner einleitenden Beschäftigung mit "Alte(n) und neue(n) Fragen nach hundert Jahren Psychotherapie" Brücken zu bauen. In seinen 12 Thesen verschafft er einen Überblick, in dem auch die Errungenschaften systemischer Perspektiven benannt und bezeugt werden.
In vier Abteilungen kommen Fragen der theoretischen Fundierung, der praktischen Anwendung, der Versorgungslage allgemein sowie weitergehende Ausblicke zur Sprache. Es handelt sich dabei überwiegend um Beiträge, die über den Tellerrand weisen und sich von Werbeblocks für verhaltenstherapeutische Ausbildung unterscheiden. Überwiegend wird das Bemühen um das Entwickeln "offener Regeln" deutlich, wie es Anna Auckenthaler in ihrer versierten Kritik an den zunehmenden Manualisierungsbestrebungen anspricht. Ihr Beitrag, sowie Ulrike Willutzkis Diskussion der Ressourcenorientierung machten auf mich im Praxisteil den stärksten Eindruck. Weitere Themen u.a.: Diagnostik, Beziehungsgestaltung, sowie Gruppentherapie.
Der Theorieteil bietet weitgehend schulenübergreifende Diskussionen, u.a. Jürgen Kriz zur Frage der "Wissenschaftlichkeit", Günter Schiepek zu Komplexität und Dynamik als Herausforderungen für die Psychotherapieforschung, sowie Franz Caspar mit einer anregenden Annäherung an eine "Essenz qualifizierter Psychotherapie", trotz des möglicherweise anmassenden Titels sehr lebens(alltags)praktisch und mit interessanten Bemerkungen zum Thema "Intuition". Als Zukunftsmusik besonderer Art behandelt Nicola Döring in der Abteilung "Versorgungsperspektiven" Erfahrungen mit und Möglichkeiten des Einsatzes von Computer und Internet in der professionellen psychosozialen Hilfe. Während diese Art der Hilfen virtuelle Nähe anspricht, kommen im Kapitel über Selbsthilfe(gruppen) eher handfeste und nahräumliche Formen der Unterstützung zur Sprache (Rosa Geislinger).
Die Abteilung "Ausblick" versammelt noch einmal vier altgediente Kärrner (Keupp, Schmidbauer, Stierlin und Fengler). Dass der Ausblick diesen erfahrenen Kollegen überlassen wird, die den gesellschaftlichen Kontext nicht aus den Augen verlieren, wirkt beinahe beruhigend. Wenn es vielleicht auch nicht vor den Wirrnissen einer ökonomistischen Profilierung unserer Profession bewahren kann, ein Zeichen ist es für mich schon. Keupps Forderung nach einer "Perspektive, die Lebenssouveränität und den ‚aufrechten Gang‘ fördert" ist und bleibt programmatisch, lässt sich nicht in schulenspezifische Pfründesicherung umschreiben und "ist ohne weitestgehende Einbeziehung der Betroffenen nicht vorstellbar" (S.329).
So möchte ich denn dieses Buch ausdrücklich empfehlen. Obwohl ich mich gelegentlich an einer Stelle oder einem Beitrag gestossen habe, ist es in seiner Gesamtkonzeption und in seinem Tenor ermutigend, in mancher Weise geradezu beeindruckend in seiner kraftvollen Argumentation (noch einmal für’s Ganze: Anna Auckenthaler). Matthias Hermer fragt in seinem Vorwort: "Werden demnach oft Wolkenkuckucksheime gebaut oder gelingt der Anspruch, unter erschwerten Bedingungen besondere Kreativität freizusetzen?". Bücher wie dieses vermögen zu einer zwar vorsichtigen, aber doch eher optimistischen Antwort beizutragen.
Wolfgang Loth, kopiloth@t-online.de
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