Das vorliegende Buch von Schiepek erweist sich als notwendiger Beitrag unter der Prämisse, daß gerade systemorientiertes Arbeiten mit der Frage zu tun hat, wie Vorannahmen, Unterscheidungs- und Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden können. Der Umgang mit "Problemen organisierter Komplexität" (Willke 1983), der therapeutisches Arbeiten kennzeichnet, birgt sowohl die Gefahr, "sich im dynamischen Chaos zu verlieren", als auch die Möglichkeit, auf eine Art zu strukturieren, die oft den Eindruck der Beliebigkeit (für Beobachter) nicht ganz zu vermeiden vermag. Eine einseitige Betonung pragmatischer Aspekte mag dabei eine Rolle spielen.
Auf der anderen Seite scheinen einige Gedanken zur Weiterentwicklung systemischer Therapie hin zur "Kunst der Konversation" (z.B. Goolishian 1987) zwar sehr interessant, lassen therapeutische Praktiker (zunächst) jedoch möglicherweise vor der Aufgabe stehen, wie sie ein solches Konzept nach außen hin legitimieren können. der Gedanke der nachvollziehbaren Begründung zieht sich durch das ganze Buch. Schiepek betont den Aspekt der "kriteriengeleiteten Rechtfertigung" (S. 72), greift das Konzept der "relativen Rationalität" auf (S. 108), unterstreicht "kontrollierte Praxis" (S. 163) und weist systemischer Diagnostik "den Stellenwert einer Metastrategie" zu (S. 47), die sich sowohl "um innovative Aspekte wie um Rekonstruktion praktischer Tätigkeit (bemüht). Rekonstruktionen beabsichtigen, ein Vorgehen transparent und damit kritisierbar und für Weiterentwicklungen offen zu machen" (S. 48f., Hervorh. i.O.). Nachdem Schiepek in einem ersten Kapitel "Argumente für eine systemische Perspektive psychosozialer Tätigkeitsfelder" aufgeführt hat (und dabei erkennbar von praktischen Erfahrungen in komplexen Institutionen profitiert), entwickelt er in einem zweiten Kapitel das "Konzept des Humanökosystems als Denkmodell". Ökosystem wird dabei in einem weiteren Rahmen gefaßt als der Begriff soziale Systeme. Bereits in diesem Kapitel wird deutlich, wie sich der Autor Maturanas Theorie der Autopoiese (1982) und Luhmanns Theorie sozialer Systeme (1984) befruchten läßt.
"Merkmale einer Diagnostik komplexer Systerne" bilden ein weiteres Kapitel. Als "handlungsrelevante Aspekte von Systemen" werden aufgeführt: Vernetztheit, Komplexität, Unbestimmtheit, Eigendynamik, mangelnde Prognostizierbarkeit, offener Zielzustand und Polytelie (verschiedene Ziele möglicherweise gleichzeitig und sich offensichtlich manchmal gegenseitig ausschließend). "Schwierigkeiten bei der Beschreibung komplexer Systeme" werden sehr deutlich gemacht (S. 50ff.) , sowohl als Aufgabe für Diagnostiker, den Komplexitätsgrad der Beschreibung angemessen zu wählen, als auch unter der Prämisse der Informationsdichtheit von Systemen (vgl. Dell 1984): Unter der Annahme der operationalen Geschlossenheit von Systemen ist die Vorstellung von "instruktiver Kommunikation" (etwas gezielt bewirken) nicht aufrechtzuerhalten.
D. h.: Systemische Diagnostik erfaßt auch nicht den fixen Punkt im All, mit Hilfe dessen die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte. Es kommt darauf an, möglichst nahe an die Beschreibung möglicher "Druckpunkte" zu gelangen, auf deren Veränderung hin ein definiertes System schneller und umfassender "reagiert" als bei anderen.
Den Hauptteil des Buches macht die Beschreibung der Grundlagen und Elemente des eigenen Ansatzes von Schiepek aus: Die Entwicklung idiographischer Systemmodelle. "Systemmodelle sind kognitive Organisationsinstrumente" , die durch drei Merkmale gekennzeichnet sind: Abbildung, Verkürzung (Auswahl) und Pragmatik (S. 53). Als Grundlage für die Erarbeitung idiographischer Systemmodelle gilt Schiepek der Konstruktivismus. "Autopoiese" und "Selbstreferentialität" werden als zentrale Begriffe gewürdigt sowie "Erkenntnis als rekursiver Prozeß" und "Interaktive Prozesse bei der Konstitution von Wirklichkeit" als zentrale Beschreibungszugänge. Dieses Kapitel (S. 66-76) läßt trotz seiner Kürze beeindruckend klar werden, wo die grundlegenden Schwierigkeiten für systemisches Arbeiten zu suchen sind, aber auch, welche Möglichkeiten sich daraus entwickeln, den Beobachter zu einer zentralen Variable zu "machen" (vgl. das Konzept des "Problem-Systems": Goolishian 1987; Hoffman 1987; Ludewig 1987).
Ausführlich beschreibt Schiepek die "Konstruktion idiographischer Systemmodelle" (Kap. 6) und stellt dabei insbesondere 35 Fragen vor, die den Mustererkennungsprozess leiten können. Der Autor verdeutlicht, wie die dadurch gewonnene Strukturierung ("lineare Teilbögen") "Hypothesen erster Ordnung (ermöglichen), wobei die darin formulierten Relationen ... sich im Kontext des Systemganzen deutlich relativieren. Dieses weist emergente Eigenschaften und Dynamiken auf, zu deren Beschreibung das Systemmodell als Ganzes erforderlich ist. Es stellt eine übergeordnete Makrohypothese zweiter Ordnung dar" (S. 101, Hervorh. i.O.).
Beispiele sollen die praktische Anwendung verdeutlichen: aus dem Bereich Paartherapie (S. 87ff, vgl. auch Schiepek 1985) und aus dem Bereich Heimerziehung (S. 140ff.). Hier allerdings kommt es mir so vor, daß die von Schiepek erarbeiteten Modellskizzen dermaßen komplex wirken, daß mir nicht unmittelbar deutlich wird, welche Handlungsrelevanz sich daraus ergibt. Die im Beispiel der Paartherapie berichtete Intervention ("Sexualverbot") könnte angesichts der diagnostischen Vorleistung eher wie die Maus wirken, die geboren wurde, nachdem der Berg kreißte. Aber Schiepek räumt ja selbst ein: "Was an begrifflichen und epistemologischen Problemen heiß gekocht wird, muß in der Praxis noch lange nicht so heiß gegessen werden" (S. 116).
Die weitere Diskussion von Aspekten der Konstruktion von Systemmodellen gibt eine Fülle von Anregungen, z. B. zu dialektischem Problemlösen (S. 118 ft), Systemhierarchien (S. 121 ff.), Bedingungen der Systemstabilität (S. 125 ff.) oder Fragen der Grenzziehung zwischen System und Umwelt (S. 134 ff.).
Ein Highlight stellt m. E. noch einmal das letzte Kapitel dar zum Thema "Diagnostik und Therapie" . "Interventionsplanung " , "Diagnostik und Therapie als rekursiver Prozeß" und insbesondere "Therapie als Prozeß" enthalten komprimiert eine Fülle von Anregungen. Hier wird für mich ganz besonders deutlich, welche Anregungen therapeutisches Arbeiten aus der Theorie sozialer Systeme von Luhmann erhalten kann. Ein Luhmann-Zitat (1984 S. 157) verdeutlicht schlagartig, um was es geht: "Es gibt dabei ... keine basale Zustandsgewißheit und keine darauf aufbauenden Verhaltensvorhersagen ... kontrolliert werden nur die daraus folgenden Ungewißheiten in Bezug auf das eigene Verhalten der Teilnehmer" (S. 166 bei Schiepek).
Insgesamt erscheint mir Schiepeks Buch als ein wichtiges Kompendium, als reiche Anregung zur Reflexion des eigenen Tuns als Therapeut und teilweise als Anregung zum Tun.
Die sprachliche Vermittlung der Gedanken erweist sich allerdings als nicht ganz easy: Wenn sich akademisch geschulte Ausdrucksweise (Schiepek als Akademischer Rat an der Uni Bamberg), systemische Neo-Logismen und Formalakrobatik zum gemeinsamen Tanz aufmachen, erlebt man als Beobachter (Leser) häufig genug nicht nur den Impuls zum Mittanzen, sondern manchmal eher den Impuls zum Gegenteil (Wasauchimmer).
Die Gefahr besteht, daß eine solche Sprache die "konsensuelle Abstimmung strukturell gekoppelter individueller Systeme (z.B. Fachkollegen)" (S. 72) nicht gerade erleichtert.
Als weitere Anmerkung: Sympathisch wird das Buch für mich dadurch, daß ethische Fragen und Überlegungen nicht zu kurz kommen, z.B. im Sinn von: "Schafft man Bedingungen für weitere Entwicklungen, schafft man auch Bedingungen die Möglichkeit neuer Probleme" (S. 179).
Literatur:
Dell, P. 1984. Von systemischer zu klinischer Epistemologie.
I. Von Bateson zu Maturana. Z. f. System. Therapie 2(7): 147-171.
Goolishian, H. 1987. Jenseits von "Jenseits von...".
Ein Gespräch mit H. Goolishian (J. Hargens). Z. f. System. Therapie
5(2), 105-111.
Hoffman, L. 1987. Jenseits von Macht und Kontrolle: auf
dem Weg zu einer systemischen Familientherapie "zweiter Ordnung". Z. f.
System. Therapie 5(2): 76-93.
Ludewig, K. 1987. 10+ 1 Leitsätze bzw. Leitfragen.
Grundzüge einer systemisch begründeten Klinischen Theorie im
psychosozialen Bereich. Z. f. System. Therapie 5(3): 178-191.
Luhmann, N. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer
allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp.
Maturana, H. (Ed.) 1982. Erkennen: Die Organisation und
Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig: Vieweg.
Schiepek, G. 1985. Ökologische Konzepte als Heuristiken
in der klinisch-psychologischen Systemdiagnostik. Ein Fallbeispiel. Partnerberatung
22(1): 25-38.
Willke, H. 1983. Methodologische Leitfragen systemtheoretischen
Denkens: Annäherungen an das Verhältnis von Intervention und
System. Z. f. System. Therapie 1(2): 23-37.
Wolfgang Loth (kopiloth@t-online.de,
www.kopiloth.de
)