Kürze und Prägnanz des Titels sind Programm. Grawe geht es darum, "eine in der wissenschaftlichen Psychologie fundierte Psychotherapie" zu formulieren (S.IX), emanzipiert von Therapieschulen-Interessen, allein einem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet, Forschung, Grundlagenwissenschaft und Alltagspraxis gleichzeitig bedienend, umfassend und allgemein. Mehr als eine Herkulesaufgabe. Jener konnte sich aufs Ausmisten konzentrieren, Grawe will darüber hinaus: Begründung einer Theorie der Psychotherapie, die gleichfalls ein Modell für die Therapiepraxis darstellen soll.
Ich zweifle, ob es möglich ist, einem solchen Buch in Form einer Rezension gerecht zu werden. Mein Lesekontext: zwanzig Berufsjahre, ein teilweise überbordender Arbeitsalltag, Verabschiedung des deutschen Psychotherapeutengesetzes, und schließlich dessen Verwaltungs- und Formularrealität. In diesem Schmelztigel war mir Grawes Buch manchmal ein Leuchtturm im Nebel, manchmal ein anregender Begleiter, genausomanchmal ein irritierender Störenfried, manchmal Ballast, manchmal Brennstoff. Diese Besprechung wäre also eine Notiz von unterwegs.
Wo nun ist Grawe mittlerweile angekommen. Er läßt seine Erkenntnisse durch drei fiktive Gestalten diskutieren, einen Psychotherapieforscher, einen Psychologen und eine Therapeutin. Jede/r leitet einen "Dialog"; der Forscher beginnt mit dem Thema, wie Veränderungen durch Psychotherapie zustandekommen. "Erwartungs-mal-Wert"-Perspektive, Konfliktperspektive und Beziehungsperspektive werden hier ausgeleuchtet, die Wirkprinzipien der Intentionsrealisierung, der Intentionsveränderung, der prozessuralen Aktivierung und der Ressourcenaktivierung diskutiert. Gerade die Vielfalt der Perspektiven ist es, die Grawe als Beleg dafür nimmt, daß eine schulendefinierte Verkürzung des Blickwinkels dem Projekt Psychotherapie nicht gerecht wird.
Im Prolog macht Grawe deutlich, daß ihm der zweite Teil, der grundlagenwissenschaftliche, am meisten am Herzen gelegen hat. Hier ermöglicht Grawe gerade den KollegInnen mit langen Jahren in der Praxis eine tour d'horizon über neuestes Material und Theorienbildung. Nach einem ausführlichen update zu Grundlagen und Determinanten des Erlebens und Verhaltens kommt Grawe schließlich zum Konzept der Selbstorganisation und diskutiert psychisches Geschehen nunmehr mit Hilfe des Attraktor-Begriffs. Psychische Störungen arbeitet er als Störungsattraktoren heraus. Die Praxisrelevanz dieses Ansatzes läßt sich u.a. dadurch illustrieren, daß "Inkonsistenz als Nährboden und Kontrollparameter psychischer Störungen" im dritten Dialog Thema werden, dem Dialog, der der Anwendung gewidmet ist.
Für die Praxis sieht Grawe drei Wirkkomponenten und deren Zusammenspiel als entscheidend an: Ressourcenaktivierung, Destabilisierung von Störungsattraktoren durch problemspezifische Interventionen, sowie die Veränderung motivationaler Schemata. Schaubilder helfen beim Nachvollziehen der beschriebenen Wechselwirkungen. Anhand eines (von den DiskutantInnen immer wieder zwischenreflektierten) Fallbeispiels demonstriert Grawe dann die Praxistauglichkeit seiner Ideen und leitet daraus weitreichende Konsequenzen für eine zukünftige Konzeption des Gesundheitswesens ab.
Insgesamt ist Grawe ein in sich schlüssiges und konsistent herausgearbeitetes Modell der Therapie gelungen. Das verwendete und zur Verfügung gestellte Material ist umfassend und steht PraktikerInnen in der Regel so nicht zur Verfügung. Die sich für die Praxis daraus ergebenden Herausforderungen sind erheblich. Die Zumutung ist aber in Ordnung, Grawe selbst mutet sich selbst offensichtlich nicht weniger zu. Daß er also Arbeit macht, ist für mich ein Pluspunkt.
Was mich beschäftigt ist etwas anderes. Manchmal gewinne ich den Eindruck, Grawe schreibe gegen einen Horror an, Psychotherapie, bzw. ihre Wirkung sei in ihrem Kern den KlientInnen selbst zuzuschreiben, den "unbesungenen HeldInnen der Psychotherapie", wie Miller, Duncan & Hubble (1997) sie nennen. Wie sich Grawe engagiert und mit Verve gegen "das Extrem einer patientenorientierten Psychotherapie" ausspricht (S.23f.) scheint mir eine Schlüsselstelle zu sein.
Ein Beispiel: Grawe schreibt: "Die Problemperspektive bestimmt das Was der Veränderung, die Ressourcenperspektive bestimmt das Wie. Wenn der Therapeut sich überlegt, was beim Patienten zu verändern ist, nimmt er die Problemperspektive ein. Wenn er jedoch überlegt, auf welche Weise er mit dem Patienten zusammen an dessen Probleme herangehen will, dann sollte er dies in erster Linie von den vom Patienten mitgebrachten Ressourcen abhängig machen, dann ist die Ressourcenperspektive ergiebiger" (99). Diese Reflexion der Wirkung von Problem- und Ressourcenperspektive definiert die Rolle von PsychotherapeutInnen als die eines normativen Experten, der weiß, was inhaltlich richtig ist für PatientInnen/ KlientInnen. Deren Fähigkeiten werden nur (ausge-)nutzt für den Weg, den TherapeutInnen vorgeben.
Ich möchte nicht verschweigen, daß Grawe selbst diesem Eindruck entgegentritt: "Ressourcenaktivierung heisst nicht nur, die vom Patienten mitgebrachten Bereitschaften und Möglichkeiten, die er von sich aus ins Spiel bringt, ausdrücklich zu beachten und zu nutzen, es heisst auch, schlummernde Bereitschaften und Möglichkeiten zu wecken, als Selbstzweck, und um sie für therapeutische Zwecke zu aktivieren" (135). Die weitere Argumentation Grawes scheint mir jedoch eher für den Eindruck zu sprechen, daß er sich wohl damit schwertun dürfte, eben diese Ressourcen zur Grundlage, zum Ausgangspunkt der Gesamtbetrachtung zu machen. Daher irritierte es mich etwas, wenn Grawe an anderer Stelle schreibt: "Ich nehme an, dass Therapeuten so lange nicht die Frage nach den Ressourcen des Patienten systematisch gestellt haben, weil sie dann logischerweise ihr Vorgehen von den Antworten auf diese Frage hätten abhängig machen müssen." (99) Kein Wort dazu, daß die Verallgemeinerung 'Psychotherapeuten' hier nicht zulässig ist, immerhin wirbt de Shazers BFTC mit dem Slogan "Solutions since 1982", d.h. spätestens Mitte der 80er Jahre war der ressourcenorientierte Ansatz bekannt und wurde öffentlich diskutiert.
Möglicherweise hat Grawe selbst sich den Blick dadurch verstellt, daß er diesen Spagat zu bewältigen hat zwischen expertenhafter externer Zuschreibung von Mängeln (Zielbestimmung durch TherapeutInnen) und der nicht zu vermeidenden Erfahrung, dieses Ziel nicht gegen PatientInnen/ KlientInnen durchsetzen zu können. Im Kontrast dazu wirkt es umso bemerkenswerter, wie oft und mit welchem Nachdruck er die Bedeutung der Ressourcenperspektive unterstreicht bis hin zu: "Ohne Ressourcenaktivierung bleiben störungsspezifische Interventionen erfolglos" (S.553). Das Leiden unter Inkonsistenz und das Streben nach Konsistenzerfahrung, von Grawe als zentrales Element des psychischen Systems plastisch und spannend beschrieben, hätte an dieser Stelle durchaus etwas mehr selbstreflexive Aufmerksamkeit verdient. Grawe selbst bietet hierzu eine Reieh von Anregungen an, die im Licht der beschriebenen Überlegungen bei mir eine Reihe von Anmutungen auslösten, beispeilsweise bei der folgenden Aussage: "Es wird also jeweils mit einem kurzfristigen Konsistenzgewinn eine längerfristige Inkonsistenz erzeugt, welche die Wahrscheinlichkeit für die Ausbildung weiterer Störungen erhöht oder die den Störungsattraktor weiter stabilisiert" (505). "Das höchste Ziel der Psychotherapie muss daher darin liegen, die Konsistenz im psychischen Geschehen zu erhöhen. Konsistent ist das psychische Geschehen in dem Ausmass, in dem die realen Erfahrungen mit den intentionalen Schemata kongruent und die motivationalen Schemata miteinander konkordant sind." (571).
Grawe gibt sich redliche Mühe, den Stoff dialogtauglich aufzubereiten. Das kann natürlich bei einem solch komplexen Werk nicht durchgängig gelingen. Eine Reihe von Diskussionsabschnitten wirken wie nachträglich in einen ziemlich langen und oft dozierenden Monologteil hineinfabriziert. Und gelegentlich redet auch die Praktikerin "wie ein Buch". Die häufigen Schein-Fremdzitierungen der Grawe'schen Vorarbeiten und eingebaute Werbung ließen sich etwas leichter verkraften, wenn denn andere KollegInnen auch erwähnt würden, die Grawe sicher kennen muß (Lambert zum Beispiel, oder Ciompi!). Aber was soll's Mäkeln! Ein solches Buch muß schließlich erst einmal geschrieben werden. Wünschen würde ich ihm neugierige und mutige LeserInnen, die schließlich nicht diesen Satz überlesen: "Psychotherapeuten sollten von vorneherein in Neugier, Veränderungsbereitschaft und einer Bereitschaft zum Zweifeln am Alten und scheinbar Selbstverständlichen gefördert werden." (S.691).
Literatur:
Miller, S.D.; B.L. Duncan & M.A. Hubble 1997. Escape
From Babel. Toward a Unifying Language for Psychotherapy Practice.
New York/London: Norton.
Wolfgang Loth (Bergisch Gladbach)
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